Dies ist die Vorgeschichte von Joao, dem kleinen Wasserkocher.
Er schlägt die Augen auf. Er lebt. Um ihn herum rauscht das Meer. Feiner Sand knirscht unter seiner metallenen Hülle, als er sich langsam aufrichtet und vorsichtig den Kopf in alle Richtungen dreht. Strand, Palmen, endloses blau und eine komische Statue ist alles, was er sieht. Er richtet sich auf und geht zaghaft ein paar Schritte. Alles tut weh, aber funktioniert- und langsam kehrt auch die Erinnerung zurück.
Er war auf einem Piratenschiff zuständig für das Wasserkochen gewesen. Denn auch auf dem abgefucktesten Piratenschiff will man zwischendurch mal einen ordentlichen Tee. Dann waren sie in einen Kampf geraten, die Ereignisse hatten sich zugespitzt und Joao war in hohem Bogen über Bord geflogen. Er musste das Bewusstsein verloren haben, denn als nächstes war er in flimmernder Hitze hier an diesem unbekannten Strand aufgewacht, ohne Roberto, seinem engsten Kameraden, dem Kombüsenkoch.
Joao guckt sich um. Überall liegen eingeölte Menschen in Liegestühlen unter blauen Sonnenschirmen. Kinder spielen im Sand, die Erwachsenen trinken irgendwas undefinierbares aus einer kleinen gelben Dose, auf der "Skol" steht und aus verschiedenen Ecken schallt wummernde Musik über den Sand. Dunkle, muskulöse Männer schießen sich gegenseitig einen Ball über ein Netz zu und rennen hektisch hin und her. Dünne Jungs tragen farbenfrohe Cocktails herum und kassieren dafür Geld.
Der kleine Wasserkocher ist ganz benommen. Keiner scheint auf ihn zu achten, warum auch. Er tappst langsam durch den Sand, zwischen den Schirmen hindurch auf eine Steintreppe zu, die zu einer höher liegenden Straße führt.Er schleppt sich die Stufen hinauf. Es ist ziemlich heiß und er beschließt, an der erstbesten Tür zu klingeln. Vollkommen mittellos wie er ist, wird man ihm bestimmt helfen. Zuversichtlich überquert er die Straße.
Er klopft an eine rotbraune Tür von einem etwas eingedellt wirkenden kleinen Häusschen.
Ein hutzeliges Männchen in Unterhose macht ihm die Tür auf. Es ist ziemlich dürr und ausgezerrt, nur eine ungesund wirkende Kugel schmückt seinen Bauch unter den ansonsten durchscheinenden Rippen. Als er den kleinen Wasserkocher sieht, breitet sich ein strahlendes, zahnloses Grinsen in seinem ausgemerkelten Gesicht aus. Er trägt in der einen Hand ein kleines, beschlagenes Glas mit einer gelben, kohlensäurehaltigen Flüssigkeit, stürzt es aber nun in einem Zug hinunter. "Aaahh!" macht er. "Cerveja gelada! Eisgekültes Bier! Möchtest du?"
Joao zuckt mit den Schultern. "Warum nicht!" Antwortet er, glücklich, so nett aufgenommen zu werden. Glücklicherweise versteht und spricht er die Sprache einwandfrei- es ist Portugiesisch. Seitdem er als kleiner Kocher mal in einen Zaubertrank gefallen war, beherrscht er alle Sprachen auf exakt B2 Niveau.
Verlegen grinst Joao zurück und tritt mutig über die Türschwelle. "Komm rein komm rein" ermuntert ihn der Mann zahnlos lachend. Laute Bässe einer unbekannten Musik wummern ihm entgegen. Der zahnlos lachende Mann federt ihm Takt mit den Knien und schwenkt die dürre Hüfte in der Unterhose, das nun leere Glas in der Hand kreisend.
Sie stehen in einem kleinen, im Kontrast zur grellen Sonne draussen dunklen, fuseligen Raum mit zwei gelben Plastikstühlen, einem kleinen Kühlschrank, einer nackten Glühbirne an der Decke und kahlen Wänden und Fußboden. Gemütlich ist was anderes. Außerdem steht ein fetter Verstärker in der Ecke des Raumes, aus dem die Musik herausscheppert. Auf der anderen Seite des Raumes führt eine Tür in ein anderes Zimmer, in dem man aber nichts erkennen kann.
Der hutzelige Mann wackelt zum Kühlschrank, öffnet ihn und holt eine große Flasche Bier, auf der "Brahma" steht, heraus. Er füllt ihre Gläser mit einem großen Schlenker auf und singt dabei zu der Musik: "Salvadoooor Bahia, Salvador meu amor.." Joe lächelt ihn breit an und versucht, im Takt der Musik irgendwie zu ruckeln. "Samba, Samba!" Ruft der Mann freudestrahlend und versucht, ihm die Sambaschritte beizubringen. Kondensationswasser läuft an Joaos Hülle hinab, als er angestrengt versucht, die schnellen Schritte nachzuahmen. "Komm mit, komm mit" sagt der Mann und winkt ihn hinter sich her, er hutzelt durch den Raum, mit seinem kleinen buckligen Rücken vor Joao herwackelnd, durch die gegenüberliegende Tür, durch ein anderes, dunkles Zimmer mit einem breiten Bett ohne Bettlaken und durch eine Tür hinaus, die auf einen breiten Treppenabsatz hinausführt.
In der gleißenden Sonne sitzt eine korpulente Frau auf einem Plastikstuhl, die Beine ausgestreckt, die dicken Schenkel wie Fladen vor sich ausgebreitet, neben ihr auf dem Treppenabsatz ein gelbes Plastiktischchen. Sie lächelt Joao ebenfalls breit an, als sei es überhaupt keine Überraschung, einen Wasserkocher an ihrer Teegesellschaft teilhaben zu lassen. Neben ihr führt eine unregelmäßige Treppe zwischen abenteuerlich aufeinandergeschichteten Häuserwänden aus roten Ziegeln hinab, Katzen, Hunde und Hühner laufen herum, Musik schallt aus den Häusern und Wäscheleinen sind dazwischen aufgespannt. In den geöffneten Türen sitzen die Leute und trinken Bier aus den gleichen kleinen Gläsern, andere stehen in Grüppchen zusammen und wippen in den Kniekehlen zum Takt der Musik, ein Ball fliegt herum. Joao ist ganz überwältigt von den ganzen Eindrücken und drückt sich verlegen an der Wand herum.
Der kleine dürre Mann hat ein Stühlchen für Joao aufgetrieben, bedeutet ihm, sich hinzusetzen und schenkt ihm direkt Bier nach. "Obrigado" bedankt sich Joao artig, dem schon leicht duselig ist, obwohl er Alkohol eigentlich gewohnt ist, da er auf dem Piratenschiff ständig Rum trinken musste. "Woher kommst du?" fragt die Frau neugierig und trinkt einen großen Schluck. "Ich weiß nicht genau" antwortet Joao wahrheitsgemäß- ist er doch, seitdem er sich erinnern kann, mit Roberto, dem Kombüsenkoch gemeinsam auf dem Piratenschiff gewesen. "Aber ich bin ein Wasserkocher!" Verkündet er stolz.
Verwirren zeigt sich auf den Gesichtern der beiden. "Ein was?" Kichert der Mann und beginnt munter zu der Musik auf den Tisch zu klopfen. "Ein Wasserkocher!!" Wiederholt Joao ungeduldig. Die beiden tauschen verständnislose Blicke aus und zucken mit den Schultern. "Oiii Mariella tudo bom!!" Brüllt der Mann nun zu einer buckligen Frau herüber, die mit einem Besen aus dem gegenüberliegenden Haus erschienen ist und grimmig Hühnermist die Treppe runterfegt.
Joao ist verstimmt. Er hatte mehr Begeisterung erwartet. Kurz entschlossen schnappt er sich sein Glas Bier, gießt es sich in den Rachen und kocht es auf. Während das Bier langsam anfängt zu brodeln und zu blubbern, lehnt er sich selbstzufrieden zurück. Als das Bier in ihm drin blubbert und spritzt, kippt er es aus seinem Schnabel in sein Glas zurück, wo es nun vor sich hindampft in der glühenden Sonne. Die korpulente Frau und das dürre Männchen haben den Blick perplex auf das Glas geheftet- "vc e loco - du bist verrückt" sagt der Mann kopfschüttelnd, das dampfende Bier anstarrend. Die Frau fängt dröhnend an zu lachen. "Olha ele, Mariella!! - Schau ihn an!!" Ruft sie der buckligen Frau zu, die jetzt mit konzentrierter Miene dabei ist, auf der saubergefegten Fläche frisch gewaschene Socken zu sortieren.
Verwirrt schaut die Frau hoch: "Que! Was!" "Mach nochmal!!" Fordert die Frau Joao auf, und er kippt sich kurzerhand ihr Glas Bier hinter die Binde. Jetzt doch neugierig schlurft das Socken sortierende Fräulein zu ihnen herüber und murmelt ungläubig: "Que isso!" Kurze Zeit später haben sich drei Teenager mit verschränkten Armen und skeptischen Minen zu ihnen gesellt.
Nach einer Weile herrscht ein Riesengedränge um ihren Tisch. Der hutzelige Mann hat bereits eine Schale für Münzen aufgestellt, in die es munter reinregnet. Der ganze Tisch steht voll dampfender Biergläser. Joao genießt die Aufmerksamkeit, und für den extra Kick hängt er nun Teebeutel in die kochenden Gläser und ruft: "Bedient euch, Leute!!" Das lassen sie sich nicht zwei mal sagen und nippen mit kurioser Mine an ihren Biertees. So gut scheint er ihnen allerdings nicht zu schmecken, außerdem ist es heiß und sie wollen ihr Bier "gelada".
Schon bald ist der anfängliche Hype verflogen und Joao sitzt alleine an dem Tisch voll dampfender Biergläser mit dem Pärchen, welches nun in ein angeregtes Gespräch über den kleinen Sohn der Nachbarn vertieft sind, der von einem Hund gebissen wurde.
Fortsetzung: morgen 07:00
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